Steno-Transkriptionen

Steno-Transkriptionen

Carl Schmitt notierte Gedanken und Erinnerungen in Gabelsberger Stenographie, die heute nur noch  wenige Menschen beherrschen. Ein gewichtiger Teil dieser stenographisch verschlüsselten Texte sind Tagebücher, die Schmitt über fast die ganze Dauer seines langen Erwachsenenlebens führte. Sie sind für die Zeit von 1912 bis 1981 mit nur wenigen Lücken erhalten und bieten nicht bloß das Diarium des Gelehrten mit allen individuellen Befindlichkeiten und Selbstzweifeln, sondern auch seinen work in progress, den Gedankenstrom und die Auseinandersetzung mit Lektüren, Vorträgen, Gesprächen, Erlebnissen usw. in oft aphoristisch, auch polemisch zugespitzter Formulierung.

Die Gesellschaft setzt sich dafür ein, die Lesekunde der Gabelsberger Stenographie zu erhalten und zu fördern. Sie publiziert auf dieser Seite deshalb beispielhafte Transkriptionen von  Notizen aus dem Nachlass Carl Schmitt im Duisburger Landesarchiv NRW. 

Notiz vom 28. April 1922

Gabelsberger Kurzschrift

Die fünf bisher veröffentlichten Tagebücher Carl Schmitts aus den Jahren 1912 bis 1934 beruhen auf Eintragungen in Gabelsberger Stenographie. Das hier gezeigte Beispiel aus der Zeit April 1922 ist in einer Abfolge von Zetteln im Format 7×12 cm erhalten; die meisten Tagebuch-Eintragungen sind in fest gebundenen Kladden notiert.

Die Gabelsberger-Kurzschrift (oder Gabelsbergersche Kurzschrift) geht auf den Kanzlist Franz Xaver Gabelsberger zurück, der sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte. Die Gabelsberger-Kurzschrift war an der Wende zum 20. Jahrhundert in Deutschland und Österreich das gängigste Kurzschriftsystemen mit Carl Schmitt als einem der prominentesten Autoren.

Es folgt der transkribierte Text:

Freitag, 28. 4. [1922]
Morgens um 1/2 8 Uhr geweckt durch den Bruder, der das Frühstück brachte, wie üblich angezogen. Schön nachgedacht. Um 9 Uhr zur Stadt, um 1/2 10 im Münster, etwas später kam K. Wir hörten die Messe, dann durch die Straßen der Stadt, zur Universität, Nachricht von der Katharina v. Wandel, Angst, es stimmte etwas nicht. Während K. einkaufte, zur Hohenzollernstraße. Sie ging in ein größeres Zimmer. Ich war entzückt von dieser [schönen] vornehmen Frau. Mit K. im Gangolf gegessen, dann nach Hause, 1/2 Stunde ausgeruht. Dann zur Waschanstalt, dann ein Bügeleisen gekauft, schließlich im Café Hansa. Etwas an dem Buch über Deutschland geschrieben, wütend, weil K. mich zur Post schickte wegen des Telegramms an die Bahn, (sie machte sich übrigens nichts daraus, sondern blieb bei der Sache, d. h. dem, was ihr Vorteil ist). Bis 1/2 9 Uhr im Café, dumme Musik, etwas spazieren, im Bahnhofshotel Kieffer gut gegessen, freundlich unterhalten, über <…>, dann zum Brüderhaus, wo ein Telegramm für K. war. Sie fährt wirklich am 5. von Toulon ab.

Samstag, 29. 4. [1922]
Morgens schlecht ausgeschlafen. Um 1/2 9 begegnete mir K. auf der Poppelsdorfer Allee, als ich gerade zu ihr gehen wollte. Sie wollte gleich nach Heidelberg fahren. Entsetzlich. Ich frühstückte. Schließlich fuhr sie doch nach Köln, wie verabredet. Ich brachte unterdessen meine Koffer zu Frau von Wandel, packte aus. Dann nach Hause, Briefe geschrieben (der Rechtsanwalt Hirschberg will meine Vollmacht), an André, Georg Eisler, die Mutter (um Wäsche), Karin, Ännchen, Jup. Froh, das erledigt zu haben und einen Augenblick einsam zu sein. Dann zu Kaufmann, der schon am 10. zurückkommt; zur Universität, ein paar Briefe, einer von Carita, sie will Geld; musterhafte Sache. Aß ein Stück Schokolade, dann nach Hause, etwas ausgeruht. Zur Waschanstalt an den Rhein, Georg Eisler glücklich geschrieben, berauscht, in einer schönen Stadt am Rhein zu sein. Um 4 an die Bahn, eine halbe Stunde auf K. gewartet, die von Köln zurückkam. Sie hat ein Kleid gekauft und spricht nur von Geld. Es ist grauenhaft. Sie sagte: sie habe Mitleid mit Cari, weil diese es so schwer habe.

Entnommern aus: Carl Schmitt, Der Schatten Gottes. Introspektionen, Tagebücher und Briefe 1921 bis 1924. Gerd Giesler, Ernst Hüsmert u. Wolfgang H. Spindler (Hg.), Duncker & Humblot, Berlin 2014, S. 74/75.

Tagebuchaufzeichnungen von Carl Schmitt vom 3. bis 5. Mai 1946

Im Camp Lichterfelde führte Carl Schmitt auf einem Rezeptblock, den ihm ein amerikanischer Arzt namens Charles zur Verfügung stellte, Tagebuch in Gabelsberger Stenographie. Das 73 Blatt umfassende Konvolut liegt im Nachlass unter der Signatur RW 265 Nr. 19584 und ist von Schmitt mit „Camp Berlin 1945/46“ beschriftet. Dieses Tagebuch dürfte, wenn es einmal ganz transkribiert ist, das Bild Schmitts in der Nachkriegszeit noch weiter verdeutlichen. Ein Blatt mit Vorder- und Rückseite ist abgebildet. Die langschriftliche Übertragung stammt von Hans Gebhardt und wurde gegengelesen von Philipp Gahn.

Notiz, Camp Berlin 1945/46 Vorderseite
Notiz, Camp Berlin 1945/46 Rückseite

Es folgt der transkribierte Text:

[Seite 1]

3.5. [1946] (Fortsetzung)
Nachmittags: entsetzlich diese hysterische Nazistimme mit Weltanschauung. Sie zertrümmert mein Ohr und mein Gehirn. Grauenhafte Angst vor diesen Terroristen, denen ich jetzt wieder von neuem ausgeliefert bin. Der eine kommandiert wieder zum Arbeitsdienst; unter dem Hohngelächter von drei Burschen gingen dann die alten verblödeten Beamten an die Arbeit. Ich kam aber schnell darüber hinweg, Kreutz kam hinzu und plauderte. Wever gab fleißig, in seiner preußischen Anständigkeit prallt die Nazigemeinschaft einfach ab. Erkannte die groteske Dummheit der Amerikaner und Juden, sich diese anständigen Menschen zum Feind zu machen und meinen, mit den Nazis in eine Schuld hineinzustoßen. Welch ein neues Verbrechen. Schöner blauer Himmel, aber kalter Wind. Wagte es kaum an Duschka zu denken. Dies ist wohl die Hölle. Todmüde, gequält von diesem Schlafbedürfnis, das immer wieder gestört wird, Wand an Wand mit einem solchen Peiniger schlafen zu müssen. Wollte etwas über Mittag unternehmen, aber ich war zu [müde] und seelisch krank. Zum Abendessen gab es einen Schlag Graupensuppe. Ich aß etwas von meinem Obst dazu. Wever wollte noch Tee machen, aber warten, bis Stassen draußen ist. Nebenan ununterbrochen der Terrorist. Will Krach schlagen, droht allen und jedem, redete ununterbrochen. Wie lange mag ich das aushalten. Überlegte mir oft, mit Kreutz zu sprechen, will es aber doch nicht tun. Aber wie wehrlos bin ich gegen diese Art Terror. Erinnerte mich an Höhn und Eckhardt. Wahrscheinlich kommen sie bald wieder hoch. Krupbauer. Gute Tante Üssi. Immer dieses Geknatter in den Ohren. Wie ein Marder schnappend, keines kleinen Wortes mehr fähig, aber alles erwartend, was er irgendwo aufgeschnappt hat. Im Zeitalter des Massenautomatismus ist das grauenhaft. Höre auf; gehe schweigend unter. Dann aber netter Spaziergang mit Kreutz, der gute Nachrichten über L. und Busch <?> hatte und mir davon erzählte, sehr guter Dinge. Abends ging ich noch einmal zu ihm.

Wir tranken erst Schokolade, dann Spaziergang, dann eine schöne Tasse Alkohol. Wie sonderbar, dass ich jetzt also Alkohol sagen muss. Alle meine Benimmlosigkeit<?> ist Blödigkeit, das Säuferliche. Herrlich die Sichel des zunehmenden Mondes. Dann noch Kyper [im Orig: Kyber!] gelesen, über den Kranken, den Oberaffen, die Wut eines Schnitzers über die starken Regungen und seine Schadenfreude, wenn er noch stärker, wie die nicht mehr kommen und die Oberaffen zittern. Wie dumm und hässlich ist das alles. Politische Psychologie der Tierfabel. Beeindruckt davon, dass Polyphem mir die Fabel vom Krokodil vorlas, das erklärt: gehört sich nicht, sich gegenseitig zu fressen, wenn man sich unterhält. Na ja, Polyphem. Armes Karlchen. Noch sehr schön zu Abend gegessen mit Wever, der Fleisch geschickt bekommen hat, von seiner Tochter. Ich bin wehrloser als jeder Jude. Auswechseln bei der Seelenregung.

4/5.[1946] Chaotischer Traum (wohl infolge des guten Essens, hart an der Ejakulation). In Schaltenswirtschaft <?> auf der Straße, oben links ist das Zimmer von Magda, ich besuchte sie, die übliche Sensation, auf der Stube, im Zimmer. Auf der Straße gehen zwei junge Franziskaner, hinter jungen Mädchen her, einer sagt: fesche Logik; ich höre das und nehme meine moralische Kraft zusammen, beherrsche mich, es kommt nicht zur Ejakulation, ich gehe auch nicht mehr zu ihr herauf. Das war sehr schön. – Erwachte und hatte das Gefühl der moralischen Kraft. Dadurch, dass Stassen Licht machte, der mir wie ein Peitschenhieb über die Augen fuhr, bis in die Blase hinein. Scheußlich. Nachher ein 2. Traum von André, ich habe ein Buch Hungaria Aerata, zeige es ihm und sage ihm, schreiben kann man nur von den Engländern lernen, ich werde schreiben und nicht im literarischen Sinn. Mir fiel zu den Franziskanern der Pater Kilian ein. Vielleicht betet er für mich. Herrliches Wetter, nicht mehr so müde. Etwas an Th<…> geschrieben, dann wurden wir zum Arbeitsdienst kommandiert, Steine ausgebuddelt mit Durst, Kreutz und Brinkmann, lächerlich, beschämend, aber das ist unsere Lage. Die <…> sind im literarischen Institut vernommen worden. L. hat einem geschrieben. Wir müssten bis nach dem Ende des Nürnberger Prozesses bleiben. Nach dem Essen im Bett gelegen, d.h. in meiner Kamelhaardecke. Der englische Dolmetscher bewundert die Faust-Illustration von Stassen. Konnte nicht schlafen trotz meiner Müdigkeit <…>. Betreff Nazigemeinschaft war keine Entscheidung, [sondern] nur eine Vertagung, schwindelhafter Dezisionismus, praktisch Entscheidung gegen eine Entscheidung; mit Auspuff gegen die Juden, sowie heute gegen die Nazis. Die Juden waren damals die Wehrlosen, heute sind es die Deutschen. Erst wurden die Deutschen gezwungen, sich [zu] dieser Nicht-Entscheidung zu entscheiden. Jetzt werden sie wieder gezwungen, sich zu einer Nicht-Entscheidung zu entscheiden. Aber Gott gibt gnädig, das gr. sufficem. Täglicher Schlaf, tägliche Bürde, tägliches Leid, täglich Hunger und Durst. Und schließlich den Tod. Als ich das Wandererlied von Schumann gepfiffen hörte (falsch und wie trunken), freute ich mich, dieses Handwerksburschen-Wandertriebs aus der Biedermeierzeit. Zugleich tiefe Traurigkeit, dass es eben doch nur Handwerkerburschen-Lyrik ist.

[Seite 2]

In Wirklichkeit gilt jeder, der nicht im Diesseits untergeht, der nicht alle diese rabenhaft grauenhaften gefräßigen verrufenen Bildern mitmacht, als Streikbrecher, als hinterlistiger Jesuit. Wirklich ein Lamm unter den Wölfen. Auch die harmloseste Konversation steht unter der Bedingung, dass man gefressen oder angeknabbert wird, so heißt es bei Kyper an der Stelle, die mir gestern auffiel, als Polyphem mir das vorlas. Dann eine Stunde Arbeitsdienst, Steine herausgeklopft, aber so gut wie nichts getan. Todmüde. Nachher wieder gelegen. Kopfschmerzen. Das schauerliche Geknatter und Geratter dieser Berliner Hysterikerstimme von nebenan. Zum Wahnsinnigwerden, diese Hysterie. Nachts kam <…>. Etwas Salat von dem guten Wever, dann wieder todmüde herumgelegen. Kann nicht mehr arbeiten. Wie viele schöne Arbeit ist verloren. Home erzählte, dass seine Frau vorigen Mittwoch Duschka getroffen und mit ihr gesprochen hat, als ihre Pakete aufgingen. Arme, gute Duschka. Kopfschmerzen, oft Angst um sie, krank zu werden. Gefühl der Freiheitsberaubung, das Opfer eines Ritualmordes, grauenhaft. Stassen wollte von Dante und Swedenborg erzählen. Ich war einfach wie betäubt von seinem Quatsch und verstand nichts. [Wie] überfahren. Dann gewaschen und zum Vortragsabend. Die Mädchen sangen draußen wunderschön. Ich dachte mit Tränen in den Augen an Ännchen. Grauenhaft der Ritualmord am deutschen Volk, der [2 Worte unleserlich]. Ritualmord von Exilpolitikern, die das moralische Vakuum ihres eigenen Landes damit auszufüllen [darüber: mit der Buße niederzwingen] suchen. Dazu die amerikanischen Wachtposten. Schöner Sommerabend. Fühle, dass ich noch Gefühlsreserven habe. Mit Tränen in den Augen zugehört, besonders als ich hörte: hab mein Wagen voll geladen, und an Ännchen dachte. Dann zum Vortragsabend. Die Arbeit fiel wieder auf mich. Ich sprach über den Gegensatz von Geist und Leben, Rationalismus und Irrationalismus, die Lebensphilosophie, der Gegensatz gegen das angelsächsische Denken wurde mir sehr schön klar. Durst sprach sehr gut darüber, dass unsere deutsche führende Schicht nicht einheitlich war, und ihr [wurde] Teil dieser Lebensphilosophie herrschend. Kreutz für die Zukunft optimistisch. Wir wollen keine Rationalisten werden. Dann müssen wir eben katholisch werden, liebe Leute. Dahin führe ich sie auch. Stassen war dabei, ekelhaft, arrogant. Ich verstehe nichts, Brüllte etwas von Dialektik und Unklarheit, erklärte seine Meinung sei das und das, und dafür gehe ich auf den Scheiterhaufen. Kreutz war großartig überlegen und sagte ihm, den haben wir hier nicht zur Verfügung. Für mich war das alles anstrengend und sehr peinlich. Wever war empört. Abends noch herrlicher Himmel. Stassen hat noch stundenlang nebenan bei dem Nazi <…>. Sie sprachen noch bis in die Nacht hinein.

5.5. [1946] Nichts gefangen, aber auch nicht gefischt. Herrlicher Morgen, aber nervös durch diese peinigende Anwesenheit des Stassen und die Nachbarschaft des Hysterikers. Dachte an den guten Scholz, der wohl mehr ausgehalten hat als ich, auch an Demütigungen. Überlegte den Formularbrief an Duschka. Einigermaßen gespannt auf den „römischen Katholizismus“. Habe Kreutz gestern Abend sehr lieb gewonnen, trotz seiner Mantelschäche <?>. Aber wohin gehöre ich denn selbst? Soll ich wieder leichtsinnig werden, mich auf den Kaffee freuen? Habe diese Nacht das Wort personae gehört oder geschrieben gesehen. Trotz aller Qual ist jeder Morgen einen Augenblick noch hoffnungsvoll und sogar lebenskräftig. Ich bin also nicht tot. Denke mit Entsetzen an die Zeit vor einem Jahr. Wie konnte ich sie ertragen, Schweinfurt <?> gelesen. Die plündernden Russen und Amerikaner. Geheimnisvoller Sinn und Führung. Schöner Gedanke, non mittendus canibus. Diese Hysteriker haben eine merkwürdige Funktion, sich gegenseitig zu quälen. Strindberg-Problem. <…>; die Swedenborgsche Hölle. Sonderbar neue Methode aufs Schicksal und andere Schüler <?>. Ist sie gefräßig und ekelhafte Menschenfresserei. Der seelische Kannibalismus. Das haptische Hausleben dieser Berliner Nazis; die Schnauzensprache.